Johann Eibl zeigte Weitblick, als er 1953 begann, sich mit der Gewinnung therapeutischer Präparate aus menschlichem Blutplasma zu beschäftigen. In diesem Jahr gründete der österreichische Chemiker in Wien das „Institut für Hämoderivate“, aus dem später die Immuno AG hervorging. Das Unternehmen prägte in den folgenden Jahrzehnten die pharmazeutische Biotechnologie in Österreich entscheidend mit. Später wechselten Eigentümer und Namen, der Standort spielte eine immer bedeutendere Rolle im internationalen Zusammenspiel. 2019 übernahm das japanische Pharmaunternehmen Takeda die Aktivitäten. Heute, 70 Jahre nach den Pionierleistungen von Eibl und seinen damaligen Kollegen, ist der Plasmafraktionierungsstandort in Wien-Donaustadt der größte im gesamten Takeda-Konzern. „Wir haben hier in Wien sehr viel Know-how zur klinischen Anwendung, toxikologischen Bewertung und zu den regulatorischen Anforderungen an Plasmaprodukte aufgebaut“, erzählt Andreas Liebminger, der die „Pharmaceutical Sciences“ für die aus Plasma gewonnenen Therapeutika leitet. Mit dieser Aufgabe trägt er globale Verantwortung für diesen Bereich: Zu Liebmingers Team gehören auch Forschungsgruppen in Japan und den USA, der Großteil der Leute arbeitet aber in Österreich.
Das Geschäft mit aus Blutplasma gewonnenen Produkten unterscheidet sich prinzipiell von den übrigen Sparten der pharmazeutischen Industrie. Während auf anderen Therapiegebieten die Herstellungskosten durchschnittlich 14 Prozent, der Forschungs- und Entwicklungsaufwand aber 25 Prozent des Gesamtbudgets ausmachen, ist das im Plasma-Geschäft auf den Kopf gestellt: Die Produktion von Plasma-Produkten ist Equipment- und Energie-intensiv, 57 Prozent der Kosten fließen hier herein und lediglich 9 Prozent in die R&D. „Das ist machbar, weil wir es mit Wirkstoffen zu tun haben, die wir bereits kennen. Das Hauptaugenmerk kann daher auf den therapeutischen Einsatz gelegt werden“, erklärt Liebminger.
„Forschung und Entwicklung für plasmabasierte Therapien fokussiert sich im Wesentlichen auf die Optimierung des Lebenszyklus. Dazu kommt, dass man in diesem Geschäftsbereich nicht vom berüchtigten ,Patent Cliff‘, also dem drohenden Verlust von der Exklusivität geistigen Eigentums, betroffen ist. „Bei uns ist der Prozess das Produkt, daher gibt es vor allem Verfahrens- und nicht Wirkstoffpatente“, so Liebminger. Trotz ihrer langen Geschichte (der Prozess der Plasmafraktionierung wurde in seinen Grundzügen in den 1920er- und 1930er-Jahren entwickelt) ist die Marktentwicklung für Plasmaprodukte höchst dynamisch. „Wir schätzen, dass es in Europa rund eine Million Patienten mit Erkrankungen gibt, die mit Produkten aus Blutplasma behandelt werden können“, so Liebminger. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um verschiedene Formen der Hämophilie (bei denen Gerinnungsfaktoren supplementiert werden) und Immundefizienz (diesen Patienten fehlen Immunglobuline, die ebenfalls aus Plasma gewonnen werden können).
Allein das Weltmarktvolumen für Immunglobuline wird auf rund eine Milliarde Euro pro Jahr geschätzt, alle Plasmaprodukte zusammen machen etwa doppelt so viel aus. Und diese Zahlen wachsen stetig: „In den vergangenen Jahren hat sich in der westlichen Hemisphäre die Diagnose von Erbkrankheiten wesentlich weiterentwickelt. In den stark wachsenden Märkten in Asien, Lateinamerika und Afrika wiederum hat sich die Gesundheitsversorgung verbessert, sodass mehr Patienten Zugang zu den Produkten haben“, erläutert Liebminger die globale Marktsituation. Die Folge ist ein nahezu lineares Wachstum des Plasmamarkts von etwa sieben Prozent im Jahr. Das prägt auch die Entwicklung des Wiener Standorts: „In den letzten zehn Jahren hat sich das Plasmavolumen, welches am Produktionsstandort Wien zu lebenswichtigen Medikamenten verarbeitet wird, verdoppelt und beträgt heute mehrere Millionen Liter pro Jahr.“
Vor dem Hintergrund dieser Wachstumsperspektive gibt es für die „Pharmaceutical Sciences“ eine Reihe von Aufgaben. An vorderster Stelle steht dabei die Unterstützung des Marktwachstums durch die Steigerung von Ausbeute und Effizienz des Produktionsprozesses. „Um einen Patienten ein Jahr lang zu behandeln, sind mehr als 100 Plasmaspenden erforderlich, bei Hämophilie-Patienten sogar mehr als 1.000. Jedes Gramm mehr, das wir extrahieren können, spielt also eine Rolle“, rechnet Liebminger vor. Gerade die Entwicklung Computer-unterstützter Methoden hat hier neue Möglichkeiten eröffnet. „Humanes Plasma ist ein sehr heterogenes Rohmaterial. Wir untersuchen, wie Unterschiede im Ausgangsmaterial zu Mengenunterschieden in der Ausbeute führen“, nennt Liebminger eine Aufgabe, für die Algorithmen zum Einsatz gebracht werden. Eine andere Zielrichtung ist die Verringerung der Durchlaufzeit. Das hat Vorteile für den Patienten (heute dauerte es ca. zwölf Monate von der Plasmaspende bis zum fertigen Produkt), aber auch für den Ressourcenverbrauch: „Wenn wir die Produktionszeit um ein paar Stunden verkürzen können, hat das bei einem energieintensiven Prozess wie diesem einen enormen Nachhaltigkeits- und Wirtschaftlichkeitseffekt“, sagt Liebminger. Eine zweite Aufgabe der Forschung besteht darin, die Administration der Behandlung selbst zu vereinfachen. „Das Ziel ist, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern, indem unterschiedliche Produktstärken, Dosierungs- und Verabreichungsformen usw. erforscht werden. Dies ist ein wesentlicher Faktor, mit dem sich Takeda auch von Mitbewerbern unterscheiden kann: „Wir hatten über Jahre hinweg fünf- bis zehnprozentige Immunglobulin-Lösungen im Einsatz, heute sind wir bei 20-prozentigen Präparaten, die man auch subkutan verabreichen kann.“ Neben neuen Formulierungen wird aber auch an Devices gearbeitet, die die Administration der regelmäßig zu verabreichenden Dosis beim Patienten zu Hause ermöglicht, ohne dass dieser eigens ein Krankenhaus aufsuchen müsste.
Relativ jung ist die dritte Schiene, die Liebmingers Team verfolgt. „Mit den Methoden der Proteomics, die in den vergangenen Jahren entwickelt wurden, kann man bis zu 3.000 verschiedene Proteine im Blutplasma finden“, zeigt Liebminger auf. „Derzeit nutzen wir nur fünf Prozent davon.“ Aus dem wertvollen Rohmaterial mehr herauszuholen ist daher sowohl ein ökonomisches als auch ein ethisches Gebot – schließlich handelt es sich um Material von menschlichen Spendern. Mit der Nutzung bisher nicht verwendeter Proteine vollzieht sich mitunter auch ein Paradigmenwechsel, was den Einsatzzweck betrifft: „Unsere bisherigen Produkte dienen vor allem dem Ersatz von Proteinen, die der Organismus eines Patienten nicht selbst herstellen kann.“ Mit den neuen Methoden der Proteinanalytik lässt sich aber tiefer ins pathophysiologische Geschehen blicken. Bei vielen Krankheitsverläufen werden Proteine hinauf- oder hinunterreguliert, man erkennt einen Wirkmechanismus (einen „mode of action“), an dem sich für therapeutische oder diagnostische Zwecke ansetzen lässt. Auf der Zeitleiste hat diese Schiene die langfristigste Perspektive, weil sie die ganze Bandbreite der Entwicklung umfasst – von der Präklinik bis hin zum klinischen Einsatz. Das Spektrum der Kompetenzen und Ausbildungshintergründe, die im Bereich der Plasmaforschung bei Takeda vertreten sind, ist breit: Naturwissenschaften, Technik, Medizin, in letzter Zeit auch vermehrt Experten für digitale Werkzeuge. Dass der Standort Wien internationale Strahlkraft besitzt, zeigt sich auch an der diversen Zusammensetzung des Teams: „50 bis 60 Prozent der Kollegen haben nicht Deutsch als Muttersprache“, sagt Liebminger.
Chemiereport.at, Oktober 2023
Takeda
Astrid Kindler, MA
Head of Austria Communications
Global Manufacturing & Supply and Global Quality
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